Urtubia geht im Morgengrauen zur Arbeit als Maurer, danach verbringt er Stunden in den abgedunkelten Räumen, wo die Druckmaschinen rattern.*
Kreuzberg | 20.7.2020. Am 18. Juli 2020 starb Lucio Urtubia in Paris im Alter von 89 Jahren.
Der Verlag Assoziation A schreibt anläßlich des Todes: »Sozialrebell, Geldfälscher, Bandit, moderner Robin Hood – die Liste der Titel, mit denen Lucio beehrt wurde, ist lang. Sein Leben, das wie ein Abenteuerroman klingt, ist zugleich ein Spiegel der revolutionären Bewegungen Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. […]
Doch Lucio ist auch ein Meister der Konspiration, dem in seinem nicht gerade gesetzestreuen Leben das Kunststück gelingt, nur ein paar Monate im Gefängnis zu verbringen. Erst mit weit über 70 Jahren bricht er das Schweigen. Ein Buch über ihn erscheint (in deutsch von Assoziation A verlegt), und ein Film wird gedreht, der mit deutschen Untertiteln in sieben Folgen auch bei YouTube zu sehen ist (https://www.youtube.com/watch?v=GG_HMCa2ud8). Schließlich veröffentlicht er seine Autobiografie, um selbst über sein Leben und die Motive seines Handelns Rechenschaft abzulegen. »Eine Bank zu berauben sei ihm eine Ehre« lautet dabei seine politische Grundüberzeugung. […] Nun ist der »Zorro vasco« mit 89 Jahren nach einem erfüllten Leben in Paris gestorben.
05.08.2017. Ein Baske in Paris. Ein Anarchist in Aktion. Ein Arbeiter in Solidarität. Bankräuber und moderner Robin Hood. Fälscher und doch authentisch. Alles Beschreibungen, die auf Lucio Urtubia zutreffen und doch sind alle Versuche, einen der umtriebigsten sozial-politischen Fälscher, Bankräuber und Organisatoren der anarchistischen Bewegung zu beschreiben, unzureichend.
Der 1931 in Navarra in ärmlichen Verhältnissen geborene Maurer betreibt heute im Stadtteil Belleville von Paris ein kleines soziales Zentrum mit dem Namen »Espace Louise Michel« und war zuvor Inhaber der kleinen Bau-Firma »atelier 71«. Sowohl das soziale Zentrum als auch sein Unternehmen tragen eine Referenz zur libertären Idee in ihrem Namen.
Lucio Urtubias Leben war bestimmt durch unermüdliche praktische Solidarität. Er versorgte anarchistische und subversive, emanzipatorische Gruppen mit Geld aus Banküberfällen und professionellen Fälschungen von Travellerchecks, baute Büchereien und linke Druckereien mit »organisiertem« Material auf. Er half politisch Verfolgten eine Wohnung zu finden, organisierte Fluchthilfe und notwendige falsche Pässe und beteiligte sich direkt an Aktionen der GARI [revolutionäre internationalistische Aktionsgruppen], wie der Entführung des Bankiers Baltasar Suárez zum Zwecke der Abschaffung der Todesstrafe des Franquismus.
Bei allen Aktionen zeichnet[e] ihn eine hohe ethische Grundhaltung und politisch motiviertes Vorgehen aus. Die erworbenen Ressourcen stellte er libertären Ideen folgend, der politischen Bewegung und ihren Aktivist_innen zur Verfügung.
Er traf Leute wie Che Guevara und Anarchisten wie Augustin Souchy sowie den Schriftsteller Albert Camus, erlebte 1968 in Paris. Er wurde mehrfach verhaftet und wegen großangelegten Fälschens und Vertriebs von Travellerchecks der First National Bank [heute Citibank] schließlich zu Gefängnishaft verurteilt.
Sein Vorschlag mittels massenhafter Fälschung von US-Dollars zusammen mit Cuba die Nationalökonomie der USA zu untergraben, wurde von Che Guevara abgelehnt. Ebenso schlug die Entführung des französischen Fussballstars Michel Platini [2007-2016 UEFA-Vorsitzender] anlässlich der Fussball WM 1978 fehl, um auf die Verbrechen der Diktatur in Argentinien aufmerksam zu machen.
»Heute kann ich offen sagen, dass ich alle Aktionsgruppen kannte, die es damals gab. […] Ich hatte das Glück, sie kennenzulernen und häufig zu treffen: Italiener, Uruguayer, spanische und französische Anarchisten, Basken, Argentinier und verschiedene irische Gruppen. Alle hatten ihre Gründe zu kämpfen, alle hatten ihr Ideal. Sie kämpften gegen Militärdiktaturen, die franquistische oder die Diktaturen in Amerika. Und alle diese Gruppen wurden von sämtlichen Regierungen als Terroristen angesehen. Für mich waren sie keine Terroristen, sondern Idealisten, deren wichtigster Beweggrund die Rebellion gegen die Tyrannei war, der Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Wie alle hatten sie Familie und Gefühle. Sie waren jung und viele von ihnen haben für ihre Selbstlosigkeit, ihre Solidarität und ihr Streben nach Freiheit teuer bezahlt: mit Gefängnis. […] Der Preis für die Emanzipation, die manche Leute nicht einmal zu schätzen wissen und nicht wollen, und der Preis für bestimmte Akte der Zerstörung, die für den Aufbau dieses Ideals notwendig ist, ist verdammt hoch.«*
Trotz fünf internationaler Haftbefehle im Laufe seines Lebens, lebt Lucio Urtubia heute bescheiden mit seiner Frau in Paris.
Sein Leben ist Gegenstand eines Films »Lucio – Anarchist, Räuber, Fälscher aber vor allem Maurer.« Dieses Dokumentarwerk war dann Anlass sein Leben in einer Autobiografie zu erzählen.
Informationen
Wikipedia | Lucio Urtubia
Anarchie ist eine Notwendigkeit | Interview mit Lucio Urtubia | Zeitschrift Graswurzelrevolution / Nr. 383 / November 2013
Eine Bank auszurauben, ist eine wahre Freude | Gespräch mit Lucio Urtubia | Tageszeitung Junge Welt / 1.6.2013
Frauen im Widerstand mußten Kämpfe radikaler führen | Gespräch mit Anne Urtubia | Tageszeitung Junge Welt / 7.9.2013
Fälscher für die internationale Revolte | ila – Das Lateinamerika-Magazin | Nr. 339 | Oktober 2010
Buchtips
Baustelle Revolution | Erinnerungen eines Anarchisten | Lucio Urtubia | Assoziation A | 2010
Leben, Ideen, Kampf | Louise Michel und die Pariser Kommune von 1871 | Bernd Kramer (Hg.) | Karin Kramer Verlag | Berlin 2001
Anarchismus | Reihe: theorie.org | Hans-Jürgen Degen / Jochen Knoblauch | Schmetterling Verlag | 2006
Filmtips
Lucio – Anarchist, Bankräuber, Fälscher. Aber vor allem … Maurer. | | Dokumentation | Jose Mari Goenaga / Aitor Arregi | Baskenland 2007 | Spanisch mit dt. Untertiteln
Charla con Lucio Urtubia | | Zaragoza | 2015 | spanisch/espagñol
Louise Hires a Contract Killer | | Spielfilm | Benoît Delépine / Gustave Kervern / Mathieu Kassovitz | Frankreich 2008