»Ihr auf den Straßen und Plätzen, ich grüße euch!
Ihr, die ihr hier protestiert, weil ihr dem Unrecht und der Unvernunft des Kapitalismus nicht tatenlos zuschauen wollt. Weil ihr eine andere Welt wollt: eine Welt ohne Kriege, ohne Waffenhandel, ohne Hunger, ohne Ausbeutung, für verantwortlichen Umgang mit unserem Planeten Erde zum Wohle kommender Generationen.« [Rede | G-20-Gipfelproteste | 8.7.2017]
Kreuzberg | 10.8.2021. Vor ca. einem Monat, am 10. Juli 2021 vertarb die Sängerin und Antifaschistin Esther Bejarano im Alter von 96 Jahren in Hamburg. Hunderte von Menschen kamen zu ihrer Beerdigung.
Mit Esther Bajarano starb eine der letzten öffentlich breiter bekannten Überlebenden des Holocaust. Sie hatte Vertreibung, Zwangsarbeit, Deportation, die Konzentrationslager Ausschwitz und Ravensbrück überlebt. Beim so genannten Todesmarsch aus Ravensbrück gelang ihr die Flucht. Überlebt hatte sie auch deshalb, weil sie als Musikerin im Vernichtungslager Ausschwitz im Häftlingsorchester spielen konnte.
Seit den 1980er Jahren war sie als antifaschistische Aktivistin in der Öffentlichkeit bekannt. Sie äußerte sich nicht nur zum historischen Faschismus, sondern war bis zuletzt aktive Antifaschistin, die am aktuellen gesellschaftlichen Geschehen teilnahm und an etablierter Politik grundsätzliche (antikapitalistische) Kritik übte. Sie sprach vor Schulklassen, war Rednerin auf zahlreichen Veranstaltungen, Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen. Sie positionierte sich unzweifelhaft gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg. In Talkshows war sie erfrischend direkt und kritisch; sie unterlag nicht weichgespültem Geblubber, sie ließ sich ihre Worte nicht glattbügeln. Nicht zuletzt war sie Musikerin und sang mit der Kölner Hip-Hop Formation Microphone Mafia für eine bessere Welt.
„Sag nie, du gehst den letzten Weg“ – die Hymne des jüdischen Widerstands sang Esther Bejarano zusammen mit ihrem Sohn Joram und der Microphone Mafia am 18.11.2015 in der Sendung »Die Anstalt«. Schwerpunktthema war die Verstrickung des deutschen Staates mit dem NSU und der gesellschaftlich breit verankerte Rassismus.
Esther Bejarano verlor ihre Eltern und ihre Schwester, die jeweils durch die Nationalsozialisten ermordet worden waren. Nach ihrer gelungenen Flucht mit Freundinnen auf dem Todesmarsch, bereitete sie sich mit 70 weiteren Überlebenden auf die Ausreise nach Palästina vor. Über Marseille reiste sie mit gefälschten Papieren ins zukünfte Isreal ein, lebte drei Montate in einem Kibbuz. Letztlich bildete sie sich zu Sängerin aus, gründete eine Familie und bekam zwei Kinder.
Dass sie 1960 mit ihrer Familie nach Hamburg zurückkehrte, war nicht zuletzt Ergebnis der Widersprüche zur isrealischen Regierungspolitik gegenüber Palästinenser*innen und ihrer Nähe zu kommunistischen Ideen.
Mit den Verhältnissen in der BRD konfrontiert begann ihre intensive Aufarbeitung ihrer persönlichen Verfolgungsgeschichte, sie trat der VVN/BdA bei und gründete 1986 das Auschwitzkomitee für die Bundesrepublik Deutschland, welches bis heute aktiv ist.
Ab den 1980er Jahren trat sie vermehrt als sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Faschismus positionierende (Gesangs-)Künstlerin auf, veröffentlichte zahlreiche Platten, kooperierte mit verschiedensten Künstler*innen und trug maßgeblich dazu bei, dass jüdische/jiddische Lieder bzw. Texte einem breiteren Publikum bekannt wurden.
Ihre öffentlichen Ehrungen und ihre Auszeichnungen sind zahlreich – vereinnahmen indessen ließ sie sich nicht. Ihre politischen Äußerungen blieben zeitgemäß, offen, erhellend und kritisch.
Zuletzt setzte sie sich auch gegenüber etablierten Politiker*innen dafür ein, dass der 8. Mai – 1945, der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus – zu offziellen Feiertag erklärte werden solle.
In innerer Demut verbeuge ich mich vor einer ganz großen antifaschistischen Persönlichkeit.
Esther Bejaranos Rede | G20-Gipfelproteste | Hamburg 8.7.2017
»Liebe Freundinnen und Freunde
aus Hamburg und aus aller Welt,
ihr auf den Straßen und Plätzen, ich grüße euch!
Ihr, die ihr hier protestiert, weil ihr dem Unrecht und der Unvernunft des Kapitalismus nicht tatenlos zuschauen wollt. Weil ihr eine andere Welt wollt: eine Welt ohne Kriege, ohne Waffenhandel, ohne Hunger, ohne Ausbeutung, für verantwortlichen Umgang mit unserem Planeten Erde zum Wohle kommender Generationen.
Weil ihr nicht tatenlos zusehen wollt, wenn durch Ausbeutung von Mensch und Natur die Inseln Mikronesien dem Klimawandel geopfert werden.
Weil ihr nicht weiter zusehen wollt, dass tausende indische Bauern sich das Leben nehmen, weil sie ihre Hoffnung auf ein besseres Leben verloren haben, dass die Welt vergiftet wird durch chemieintensive Landwirtschaft.
Weil ihr nicht zusehen wollt, dass mit Waffenhandel viel Geld verdient wird, dass durch Kriege und Verwüstung ganze Länder unbewohnbar und Millionen Menschen heimatlos werden.
Weil ihr nicht zusehen wollt, dass im Mittelmeer tausende Flüchtende ertrinken, dass Geflüchtete ins Ungewisse abgeschoben werden.
Wir sind ein Teil von euch.
Wir, eine Vereinigung der Überlebenden der Konzentrationslager, ihrer Angehörigen, ihrer Freundinnen und Freunde, haben uns zur Verteidigung demokratischer Rechte und Freiheiten der Menschen verpflichtet.
Es ist immer gut, wenn Menschen miteinander reden. Die UNO ist für die Lösung der Probleme der Welt nach den Erfahrungen der Weltkriege gegründet worden. Hamburg als Versammlungsort der G20 hat sich offensichtlich übernommen und sich würdelos gegenüber den protestierenden Gästen verhalten, Gerichtsbeschlüsse missachtet, hanseatische Gastfreundschaft, Gelassenheit und liberales Miteinander vergessen. Stattdessen wurde die Konfrontation gesucht. Vor allem Verbote ausgesprochen. Eigentlich wurde alles verboten, Kundgebungen, Aktionen und das Schlafen in Hamburg. Ganz besonders das Schlafen in Aktions-Camps, die gerade jungen Menschen Teilhabe an solchen Ereignissen erst möglich machen.
Die Botschaft war eindeutig: Für euch ist kein Platz bei unserem Gipfel. Das ist eine Schande!
Wer erinnert sich noch, dass diese G-20-Juli-Woche vom Ersten Bürgermeister Olaf Scholz mal als „Festival der Demokratie“ angekündigt wurde?«
Informationen
Wikipedia | Esther Bejarano
Ihre Stimme wird uns fehlen | Jüdische Allgemeine | Franziska Hein, Sebastian Stoll | 10.7.2021
Wikipedia | Das Mädchenorchester von Auschwitz
Wikipedia | KZ Auschwitz
Wikipedia | KZ Ravensbrück
Wikipedia | Konzentrationslager
Microphone Mafia
FIR | Fédération Internationale de Réstistants
NSU-Watch
Buchtips
Esther Bejarano | Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts | Laika-Verlag | Hamburg | 2013
Wir leben trotzdem. Esther Bejarano – vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Künstlerin für den Frieden | Esther Bejarano & Birgit Gärtner | Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn | 2007
Esther Bejarano: Man nannte mich Krümel. Eine jüdische Jugend in den Zeiten der Verfolgung | Hrsg. Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik e.V. | Curio-Verlag | Hamburg | 1989
Musiktips
Esther Bejarano | S dremeln Feigl ojf di Zwajgn – Vögel träumen auf den Zweigen | Lieder aus dem Widerstand | MMG | 1987
Coincidence | Lider fars Leben – Lieder für das Leben | Oktave-Musik-Verlag | Hamburg | 1995
Bejarano & Microphone Mafia | Per la Vita | Mad Butcher Records | 2012
Bejarano & Microphone Mafia | La Vita continua | Al Dente Recordz | 2013
Filmtips
Esther Bejarano – Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz | SWR I | Leute | 26.1.2020
Holocaustgedenken – Wie antisemitisch ist Deutschland heute? | ARD | Anne Will | 28.1.2018
Konzert Fusion 2016 | Esther Bejarano & Microphone Mafia | Lärz | 2016
Die Anstalt | ARD | 17.11.2015