Oranienplatz 2012-2014

Nach einer Auftaktdemonstration durch die Würzburger Innenstadt begannen am Samstag, dem 8. September 2012, ca. 50 Geflüchtete aus dem gesamten Bundesgebiet gemeinsam mit Unterstützer*innen einen Protestmarsch zu Fuß von Würzburg nach Berlin.

Nach 28 Tagen und fast 600 Kilometern Fußmarsch trafen am 6. Oktober 2012 ca. 70 Geflüchtete und 100 Unterstützer*innen am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg ein und machten dort ihren Protest sichtbar, indem sie unmittelbar begannen eine Zeltstadt zu errichten. Die Besetzung des Oranienplagtzes sollte solange aufrechterhalten werden, bis Lager- und Residenzpflicht abgeschafft und die bestehende Abschiebepraxis beendet würde.

Am Samstag, den 13. Oktober 2012, kam es in Berlin mit über 6000 Teilnehmenden zu einer der seinerzeit größten Demonstrationen für die Rechte von Geflüchteten und in der Bundesrepublik.

Am 8. April 2014 wurde der Oranienplatz geräumt. Auf die Forderungen der Geflüchteten wurde von offizieller Seite nicht eingegangen.

Mehr Hintergründe

Notizen zum Moment der Räumung

Teile und herrsche I

Der Schaum des Latte Macchiato und des Cappuccinos im ehemaligen Café Altin Köse am Oranienplatz/Ecke Erkelenzdamm war wirklich von besonderer Dichte und gleichzeitiger Leichtigkeit. Der Milchschnurrbart der Bezirksbürgermeisterin Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Hermann, der der Berliner Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen Delik Kolat und der des Polizeipräsidenten Klaus Klandt saßen gemütlich auf den Oberlippen, als sie unvermittelt einer genüsslichen Zungenbewegung weichen mussten.
Alle drei waren in gebührendem Abstand zur sich vor ihren interessierten Blicken abspielenden Szenerie platziert.

Zwei kleine Bagger samt Baggerführender rissen stoisch behelfsmäßige Hütten und Zelte ein. In mitten einer Menschenmenge von in vorwiegend dunkler und funktionaler Kleidung politisch-alternativ-oppositioneller Aktivist*innen, standen und bewegten sich ebenfalls Aktivistinnen mit vorwiegend dunkler Hautfarbe, unschwer als Teile der Geflüchteten auszumachen, die seit über eineinhalb Jahren einen Kampf um ein würdiges Dasein und gegen drohende Abschiebungen kämpf(t)en.

Der Kaffee war wirklich hervorragend aufbereitet. Irgendwie passte der Geschmack nicht zu diesem vergänglichen Moment der Geschichte. Etwas weniger Süße und einen Hauch mehr Bitterkeit wäre geradezu perfekt gewesen.
Auch das regelmäßige Telefonieren des Polizeipräsidenten wollte die gemütliche Runde nicht zur Ruhe kommen lassen.

Glücklicherweise standen die an Anzahl am stärksten vertretenen Beteiligten des Abbruchszenarios unauffällig sichtbar in den Seitenstraßen rund um den Oranienplatz. Die Polizei hielt sich – entgegen ihrer Berliner Gepflogenheiten – eher im Hintergrund und sah ihre Aufgabe zunächst im Üben massiver Präsenz.

Immer mehr Leute aus dem Viertel kamen am Oranienplatz an. In der Tagespresse wird von »jungen Demonstranten aus der autonomen Szene« die Rede sein. Seit den 80er Jahren sind antirassistische oder antifa­schistische Aktivist*innen jung. Sie scheinen nicht altern zu können. Anwohner*innen wiederum sind nur dort Wohnende, die keine politische Etikette als adjektiv in den Zeilen der Zeitungen und Blogs aufweisen. Autonome sind keine Anwohner*innen und Anwohner*innen sind ohne Eigenschaften – beide anwesenden Gruppen sind keine Subjekte.

Subjektlos und ohne Rechte sind auch die aufgebrachten und gebrochenen Geflüchteten, die sich noch eine Stunde zuvor mit Hämmern, Holzlatten, mit Tränen und überschlagenden Stimmen in zwei Lager aufgespalten gegenüber standen. Nur der handfeste Konflikt brachte sie noch zusammen, Blut und Ohnmacht bleibt in einigen Gesichtern zurück.

Mehr als zwei Lager für Geflüchtete gibt es in und um Berlin. 40.000 Geflüchtete leben in Lagern in der Bundesrepublik, ca. 64.000 Geflüchtete sind Teil der Gesellschaft, ohne alle Grundrechte zu erhalten.

Die ca. 500 im Herbst 2012 von Süddeutschland nach Berlin gekommenen Geflüchteten schlugen ihre Zelte in Kreuzbergs Mitte auf. Hier konnten und können sie auf breite Unterstützung rechnen, ein Netzwerk aus Aktivist*innen verschiedener Initiativen und politischen Gruppen versuchten das Leben auf dem Oranienplatz erträglicher zu machen. Kleidung, Essen, Nachtwachen, nicht legale ärztliche Unterstützung, Duschen, Übersetzer*innen, Anwält*innen, kleine Gesten einer solidarischen Grundhaltung.

Die Geflüchteten waren nach Berlin gekommen, um auf die entrechtete und bizarre Lage von Asylsuchenden aufmerksam zu machen. Mit der Verletzung der so genannten Residenzpflicht liefen sie Gefahr direkt abgeschoben zu werden. Die kleine Zeltstadt in der Hauptstadt eines der reichsten Länder der Welt war Anlaß zur Hoffnung auf ein Durchdringen der an den Rand Abgeschobenen.

Die kleinen Bagger mit den geschlossenen Fenstern der Fahrerhäuschen verrichten weiter in gleichförmigem Tempo ihr Zerstörungswerk. Die Baggerführer vermeiden jeden Augenkontakt mit den paralysiert Umstehenden. Weder Klassenbewusstsein noch eine einfache humanitäre Haltung spiegelt sich in den Gesichtern der Stadtreinigungsangestellten wieder, die Versteinerung ihrer Gesichtsmimik zeugt vielmehr von leblosem Befehlsempfang in bewusstlosen Gehirnen. Die Drohung nach Verlust des Arbeitsplatzes ist angesichts der existentiellen Situation der Geflüchteten ein denkbar schwaches Argument. Auch Baggerfahrer können zu Tätern werden…

Die drei Kaffeetisch-Versammelten sind innerlich erleichtert, dass ein grober Polizeieinsatz ausbleibt.

Notiz | 9.4.2014