Sonntag, 28.11.2010 | Volkszählung in Ecuador


Über 360.000 Student_innen werden den vom INEC [Nationales Institut für Statistik und Zensus] ausgearbeitete Volkszählung mittels eines Fragebogens von 71 Fragen zu Bevölkerungs- und Wohnsituation mit persönlichen Besuchen umsetzen

Quito | 26. November 2010. Am Sonntag ist Volkszählung. Die letzte in Ecuador wurde 2001 durchgeführt. Eine Protestbewegung wie in der BRD 1983 bzw. 1987, die zum Boykott der Befragung aufrief, gab es hier nicht. In den 1980er Jahren wurde in der BRD noch über den »gläsernen Menschen« debattiert, die Fragen öffentlich kritisiert und die Zählung konnte nur anonym durchgeführt werden. Ich erinnere mich noch an Schlagzeilen aus der Bild-Zeitung, wie Helfer der Volkszählung 1987 verprügelt worden waren. Ein großer Teil der Bevölkerung wollte kein »1984«. Auf Marktplätzen wurden die Fragebogen öffentlich auf Wäscheleinen aufgehangen oder verbrannt. Keinerlei Vertrauen in die Vertraulichkeit der staatlichen Behörden. Heute, 25 Jahre später ist das Setting ein völlig anderes. Daten werden über Wohnungsbehörden, ehemals Sozialhilfe jetzt Hartz IV erhoben. Alle und alles ist registriert, die computertechnischen Verbindungen zwischen den Behörden sind längst ein Kinderspiel. Wenn es noch Grenzen des Datenaustausches gibt, dann, weil es noch vereinzelte Gesetzte im Sinne des Datenschutz gibt.
Das ist die eine Seite, die zweite ist eine kulturelle. Ging es in der Kritik der 1980er Jahre in der BRD noch um die Befürchtung der Durchleuchtung im Sinne eines Personenprofils, persönlicher Gewohnheiten und dem Willen des Einzelnen, ein Recht auf Privatsphäre und Intigrität zu wahren, so ist dies bzw. wäre dies derzeit kein Thema. Facebook, Internetblogs, persönliche Websiten etc. geben mehr Informationen über die Persönlichkeit und die sozialen [und politischen] Verbingungen preis, als der heute als Kinderteller eingestufte Fragebogen zur Volkszählung 1987 in der BRD. Längst ist die »Prostituierung« der eigenen Person im Internet oder in Vorabendvorführshows zur kulturellen zweiten Haut geworden und auch die Nutzung der Daten und Gewohnheiten von Portalen wie Amazon zur Generierung scheinbar individueller Geschmacksvorschläge für Musik, Bücher oder Kochrezepte, erscheint als normal und unbedenklich.
Erstmals wieder mit der Kartographierung der Erdoberfläche bzw. ganzer Städte durch Google wurde vorsichtig eine Diskussion in Richtung bewussterem Umgang mit persönlichen Daten losgetreten.
Aber zurück zu Ecuador. Die 71 Fragen drehen sich einerseits um die Wohn- und Lebenssituation der Gezählten, andererseits geht es um den Status als ArbeitendeR und die kutlurell-soziologische [Selbst]Einordnung als Indigene, Mestizen, Schwarze oder Weisse. Es geht auch um generationsübergreifende Fragen, welche Sprache die Eltern sprechen bzw. zu welchem indigenen Sprachraum der Einzelne gehört bzw. zu welcher indigenen Nationalität/welchem Volk.
Der Fragebogen ist nicht anonym. Es wird die Wohnadresse und die Vor- und Nachname abgefragt. An der Stelle ist auf dem Bogen interessant, das hier ein Feld für »Beobachtungen«, also ein Kommentarfeld für die studentischen Hilfskräfte vorgesehen ist. Wenn also der/die Zähler_in etwas hinzufügen will, was die gezählte Person betrifft, so kann er/sie das an dieser Stelle tun. Hier ist auch nochmals extra für die Hilfszensoren ein Hinweis, dass der Bogen in Form eines persönlichen Interviews ausgefüllt gehört.
Das hat einen sehr unangenehmen Überwachnugscharakter. Wer nicht kooperiert, bekommt einen Vermerk.
Die Fragen hingegen zur Zugehörigkeit der Ethnie ist vergleichsweise moderat formuliert. Hier steht:
»¿Cómo se identifica (….) según su cultura y costumbres:« Wie identifizieren sie sich selbst ihrer Kultur und Lebensgewohnheit zu Folge?
Es werden folgende Möglichkeiten genannt: Indigena, Afroecuadorianer, Afroabstammender, Schwarzer, Montubio/a [kulturell zugeordnete Küstenbewohner_innen], Mestize, Weiß, Andere.
Wozu man diese Einteilung benötigt, wenn man die Frage der Sprache und indigenen Nationalitäten ohnehin abgefragt hat, bleibt mir ein Rätsel. Vor allem die Frage nach Abstammung, welches Blut fließt in den Adern?
Bei der Frage des Geschlechtes gibt es nur Mann und Frau, Transgender wird nicht aufgeführt.
Insgesamt wird sehr detailliert abegefragt die Arbeitssituation, Art und Weise der Wohnverhältisse, infrastrukturelle Fragen, Energiesparbirnen, Anzahl der Zimmer, Art der Strom- und Wasserzufuhr, wie man Trinkwasser zu sich nimmt etc.
Eine Volkszählung eben; in zweilei Hinsicht ein Werkzeug für den Staat: a. Planung von Wohnungsbau, Strom- und Wasserversorgung, Straßenbau, Versorgung mit Bildung [Zweisprachigkeit Indigen/Spanisch], Arbeitslosenzalen bzw. Beschäftigungsgrad; b. Überwachnung und Kontrolle, Totalerfassung der Individuen.
Auch wir als Nicht-Ecuadorianer_innen, die sich derzeit auf diesem Fleck Erde aufhalten, müssen am Sonntag zwischen 7 Uhr und 17 Uhr im Haus anzutreffen sein und auf unseren Fragenbogeninterviewstudent_in warten. Das gesamte Land steht still, keine Autos, keine Flugzeuge, keine Schiffe. Nur wenige Taxis und Hotels gewährleisten zusammen mit internationalen Flügen das Weiterleben der touristischen Adern.
Alle anderen werden bei morgendlichem Sonnenschein, nachmittaglichem Regen ihre Häuser hüten, putzen und sich geeignete Anworten auf die detaillierten Fragen überlegen können.
Das bedeutet das Aus für unser sonntägliches Fussballspielen an diesem 28.11.2010. Und ich traue dem Braten nicht – ich denke, ich kreuze Indigena an und hoffe, das gibt keinen Vermerk….