Wissenschaft · Revolution · Rum · Kolbenhiebe

XXII.
Während sie die Tür mit Kolbenhieben einschlugen, sagte Philips zu San Vicente: »Die Revolution ist eine Wissenschaft, mein Bruder, solange du diese einfache Idee nicht verstanden hast, wirst du dich nicht an den richtigen Ort stellen können im Sinne … im … Wie soll ich sagen? Des Fadens, des Kurses, the stream of history, der Geschichte, genau das.«
Sie diskutierten mit einer Flasche Havanna-Rum extratrocken, die zwischen beiden auf dem Nachttisch inmitten eines verlassenen Raums stand. Das war ein wenig absurd, denn San Vicente war Abstinenzler und Philips trank nur sehr wenig. Der Havanna inmitten des Gesprächs hatte also einen dekorativen und bühnenbildnerischen Effekt und keinen funktionalen. Als deshalb die Tür unter den Kolbenstößen der Gendarmerie aufsplitterteund einer der Polizisten in das Zimmer eintrat und mit dem Gewehrlauf auf den Tisch schlug und dabei die Havannaflasche umstieß, hatte dies keine größeren Folgen. Philips versuchte gerade, aus dem Fenster zu springen, aber als er auf das untere Stockwerk blickte, entdeckte er die Läufe von zwei Mausergewehren, die darauf warteten, dass er einen letzten tödlichen Luftsprung machte. Er ging ins Zimmer zurück und grinste den Gendarmeriehauptmann an, der die Operation leitete.
»Los elender Gringo, sagen sie ihrem Freund, daß er aus dem Zimmer herauskommen soll.«
San Vicente war in das Schlafzimmer gestürzt und hatte sich dort hinter der Doppelmatratze und einem alten Schrank, den er zu Boden geworfen hatte, verschanzt.
»Kommen sie raus, San Vicente, sie sind überall und haben Gewehre dabei.«
»Und werfen sie erst die Pistole heraus, bevor sie herauskommen«, schrie der Hauptmann.
Die Fünundvierziger von San Vicente rutschte über den gebohnerten Boden und danach erschien der Mann mit erhobenen Händen.
»Sie sind vollkommen im Irrtum, Philips«, erklärte er, die Augen auf Philips gewandt und ohne den auf ihn gerichteten Gewehrläufen einen Blick zu schenken. »Die Revolution ist ein Akt des Willens, was zum Teufel soll die Wissenschaft damit zu tun haben?«
»Los, du Idiot“, sagte der Gendarm und stieß ihn mit dem Gewehrlauf vorwärts.
Philips legte beide Hände hinter den Nacken, nachdem er sich eine Lederjacke übergezogen hatte, deren Taschen zuvor vom Hauptmann durchsucht worden waren, und bewegte sich auf die Tür zu.
»Wille, was für ein Unsinn, wenn es keinen historischen Sinn gibt. Wille ohne soziale Klassen, bah“, sagte er zum Abschied. Die Havannafalsche war über den Boden gerollt, ein Gendarm schlürfte den letzten Tropfen aus, bevor er das Zimmer verließ, und warf sie dann weg.
Die Diskussion wurde unterbrochen, als sie aus dem Haus kamen, denn die Gendarmen stießen San Vicente und Philips in zwei verschiedene Automobile, die die Straße mit Vollgas in Richtung auf die Gendarmeriekommandantur in Mesones verließen.
Philips hatte erreicht, daß sie ihm eine Zigarette schenkten, und bröselte die Hälfte auf, um sie in der Pfeife zu rauchen.
»Haben die Herren etwas dazu zu sagen?« wollte der Offizier wissen, der weich in einem Ledersessel saß.
»Wohin werden wir ausgewiesen?«
»Da Sie beide unser Land über die Nordgrenze betreten haben, wird man sie dorthin bringen. Kann sein nach Reynosa oder Matamoros, nach Ciudad Juárez vielleicht.«
Philips und San Vicente wechselten einen Blick.
»Wäre Guatemala möglich?« fragte der Spanier.
»Würden sie nicht Kuba vorziehen?« wollte der Offizier wissen.
»Oberst, sie wissen, daß wir nichts mit den Vorfällen zu tun haben, für die wir angeklagt werden. Aber ich will gar nicht darüber diskutieren. Sie wissen es und das reicht. Aber wenn sie uns in die Vereinigten Staaten ausweisen, werden wir dort eingesperrt. Das gleiche würde mit San Vicente passieren, wenn sie ihn nach Havanna schicken…«
»Es tut mir leid, aber es liegt nicht in meinen Händen, darüber zu entscheiden.«
Sie verbrachten die Nacht auf einer Bank vor dem Büro des Gendarmerieoffiziers.
»In meinen Augen besteht das ganze Problem, wenn wir es auf eine praktische ebene bringen, in dieser Dikatur des Proletariats.«
»Das ist eine Übergangsformel, mein Freund. Was schlagen Sie denn unter den Bedingungen einer revolutionären Krise vor? Es bleibt nichts anderes übrig, als eine Diktatur gegen den Klassenfeind auszuüben, ihn zu entwaffnen, seine Versuche der Rückeroberung der Macht zu unterdrücken, ihn zu unterwerfen, zu verhindern, daß er die Arbeiterorganisationen sabotiert, ihn seiner Güter und Mittel zu berauben. Und gleichzeitig die Exzesse, das Chaos verhindern, das rückständige Sektoren des Proletariats und des Volkes hervorrufen können. Es ist eine Übergangsform. Eine zeitweilige Diktatur des Proletariats.«
»Ich habe da viele Zweifel; sie ist weder zeitweilig noch eine des Proletariats. Sie neigt dazu, sich zu verewigen, und ist eine Diktatur der Partei, der eurigen.«
»Aber die Partei vertritt doch das Beste der Klasse«, sagte Philips.
»Das muss sich noch zeigen«, erwiderte San Vincente und streckte sich auf seiner Bankseite aus.
Sie wurden zur Strafanstalt Carretero verbracht, an den Füßen zusammengekettet und mit doppelter Bewachung.
San Vicente, den die Sonne während der Überführung, die zu Fuß erfolgte, störte, schenkten sie einen Strohhut, da sein schwarzer Stetson beim Sturm auf das Haus abhanden gekommen war. Sie gingen langsam durch einen Tag voll Wind, der den Staub des Weges aufwirbelte.
»Aber Sie werden mir doch zustimmen, daß die Arbeiterklasse die Macht nicht ohne Organisation erreichen kann?«fragte Philips.
»Eine gewerkschaftliche, breite«, antwortete San Vicente mit zusammengekniffenen Brauen, um den Staub abzuwehren, der hartnäckig in seine Augen eindringen wollte.
»Die Sowjets?«
»Warum nicht? Die Sowjets. Aber Sowjets aller Tendenzen, Sowjets, in denen alle politischen Organisationen Platz finden. An der Basis direkt gewählte Sowjets, auf der Versammlung im Betrieb.«
»Das sind die Sowjets in Rußland.«
»Ja, das waren sie, aber mittlerweile sind die Anarchisten, die Sozialrevolutionäre davon ausgeschlossen worden.«
»Sie wurden auf dem letzten Kongreß nicht gewählt.«
»Sie sind der Verfolgung ausgesetzt.«
»Sie haben gegen die Revolution gearbeitet.«
»Sie haben gegen die bolschewistische Diktatur gearbeitet«, sagte San Vicente.
»Ihr werdet nie lernen, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren«, antwortete Philips, der etwas hinkte.
In Carretero schliefen sie auf dem Boden, sie bekamen noch nicht einmal eine aus Maisblättern geflochtene Schlafmatte. Die Steinplatten waren feucht. Philips fing mitten in der Nacht zu husten an. Er stand auf. Durch ein kleines Fenster zwei Meter über dem Boden war die schwarze Nacht zu sehen. Es gab keinen einzigen Stern. Er zündete die Pfeife an, die sofort wieder aus ging. Die Tabakreste waren verkohlt. Er rührte sie um, ohne ein besseres Ergebnis zu erzielen.
»Nur mit der Zentralisierung kann die Revolution gefestigt werden.«
»Freie Förderation der Gemeinschaften, der Industriezweige. Koordinierung. Keinerlei Zentralisierung. Zentralisieren heißt, den Erzeugern die Initiative nehmen«, sagte San Vicente, der zu schlafen schien.
Am nächsten Morgen brachte sie eine neue Eskorte zur Bahnstation von Colonia.
Philips versuchte dem Polizisten, der für die Überstellung verantwortlich war, auf den Zahn zu fühlen.
»Schicken Sie uns richtung Norden, Richtung Süden, an den Atlantischen Ozean oder an den Pazifischen?«
»Ich habe Befehl, sie nach Manzanillo zu bringen.«
»Wo zum Teufel liegt Manzanillo?«, wollte San Vicente wissen.
»Am Atlantik. Von dort aus können Sie uns mit dem Dampfschiff nach Kalifornien oder Peru bringen.«
»Nach China, wenn wir schon einmal dabei sind.«
»Ja über dieses Meer gelangt man nach China«, erkärte der Nordamerikaner.
»China wäre gar nicht schlecht, « sagte der Spanier.
»Und da wir gerade von China sprechen: Denken Sie, daß dort, in einer nationalistischen Revolution, die Antwort ein maximalistisches Programm oder eine antifeudale Allianz ist? Wie lösen Sie das Probelm der bäuerlichen Merhheit? Glauben Sie an das Klassenbündnis?«
Die Diskussion wurde sechs Stunden später im Zug wieder aufgenommen. Mit den Handschellen an Holzsitze gekettet, die ihre Hintern und Rücken quälten, Philips mit rauchender Pfeife, während der Zug die Berge der Sierra Madre Occidental durchschnitt, war es San Vicente, der die Initaitive ergriff:
»Wenn Marx sagt, daß das Ziel der Revolution die Abschaffung des Stastes ist, warum besteht die erste Anstrengung in seiner Stärkung? Warum ist der Marxismus für die Verstaatlichungen? Warum wird gesagt, daß die Wirtschaftsplanung zur Zentralisierung zwingt?«
»Weil man nicht das Ziel erreichen kann, bevor man alle Etapen zurückgelegt hat«, sagte Philips, den seine Rückenschmerzen nicht zu metaphysischen Betrachtungen anregten.
»Man kann noch viel weniger ans Ziel kommen, wenn man zurückläuft«, antwortete San Vicente, den die bewaldete Landschaft zur übelsten seiner Launen reizte.
»Zurück und auf den Knien…«, bekräftigte er fünf Minuten später, aber Philips schlief schon.
Das Gefängnis von Manzanillo war keine sonderlich ernste Angelegenheit, außerdem war es sehr heiß. So wurden sie in einen Haupthof gesperrt, der von zwei Meter hohen Wänden umgeben war, und man ließ sie dort herumlaufen, ohne ihnen eine andere Auskunft als »wir sehen uns noch« zu geben und zweimal täglich eine fast nur aus Wasser bestehende Suppe.
»Und Sie sind Bakunist, reiner Anarchist, von der Sorte Malatesta, den spanischen Anarchosyndikalisten der CNT nahestehend oder was?« wollte Philips wissen und fügte hinzu: »Letztes Jahr in Moskau habe ich Pastaña kennengelernt.«
»Ich habe nicht das Vergnügen gehabt. Und ich bin Anarcho-Syndikalist. Haben sie das denn in den Monaten, in denen wir miteinander zu tun haben, noch nicht mitbekommen? Mir gefallen Hühnerdiebe und ich bin Vegetarier, so wie die gesamte spanische Arbeiterklasse«, erklärte San Vicente halb im Spaß, halb im Ernst.
Am zweiten Tag erschien der mit der Ausweisung beauftragte Polizeioffizier mit der in Handschellen gelegten Natacha Michailowa.
»Ich bringe ihnen Gesellschaft, meine Herren, und Nachrichten.«
Während Natacha und Philips sich umarmten, hörte sich San Vicente die Neuigkeiten an.
»Sie fahren nach Guatemala. Das haben Sie dieser Dame zu verdanken, die sich, sogar mit dem Ergebnis, daß sie selbst ausgewiesen wird, bei der Regierung für Sie verwendet hat. Innerhalb von drei Stunden werden Sie mit einem Dampfer losfahren, der Sie in drei Tagen in Sipacate abladen wird.«
»Was ist das denn?«
»Ein Handelshafen der United Fruits, wie mir gesagt wurde.«
Philips widmete sich Natacha, San Vicente langen Spaziergängen an Deck, wobei er gierig den Seewind einatmete, bekümmert die Möwen beobachtete und den Himmel nach Stürmen absuchte, die niemals am Horizont aufzogen.
Es gab keine weiteren Diskussionen.
aus: »Auf der Druchreise« | Paco Ignacio Taibo II | Edition Nautilus, Hamburg 1997, 1. Auflage, S. 49-56 | Originaltitel: »De Paso« [1996]