Oaxaca gibt nicht auf

Bild: Holzschnittplakat | Historisches Zentrum Oaxaca | 20.3.2018

21.3.2018 | Oaxaca. Oaxaca zeigt sich bei unserer Ankunft gleich von seiner protestiven Seite. Wir stehen fast eine Stunde im Stau, weil es einen Parro, eine Straßensperre, einer der größeren Einfallsstraßen gibt. Wie wir später erfahren, haben Lehrer*innen ihren Forderungen Ausdruck verliehen, auch wenn wir nicht herausfinden konnten, worin diese genau bestehen. Auf dem Zocálo, dem zentralen Platz des historischen Zentrums, begegnen uns so genannte Plantones, vergleichbar mit den Protestformen der Occupy-Bewegung der letzten Jahre. Zelte, Transparente und Plastikplanen auf öffentlichen Plätzen gegen Vertreibung und Enteignung des zuvor selbst bestellten Feldes. Die verblichenen Transparente geben nicht nur Auskunft über die gesetzlich verordnete Vertreibung der Protestierenden, die blasse Schrift gibt auch Zeugnis über die Ignoranz etablierter Politik ab. In den umliegenden Straßen des historischen Zentrums, welches zum Weltkulturerbe zählt, sprechen Plakate eine deutliche Sprache. Gewalt an Frauen, das Verschwinden der 43 Student*innen, das Warnen vor dem aktuellen Gesetz der inneren Sicherheit sowie Polizeibrutalität wird auf den Holzschnittmotiven der Plakate thematisiert. Tourist*innen ziehen vorbei, die Selfie-Stange im Anschlag, bereit für das nächste selbstbezogene Selbstbestätigungsfoto…

Besetzt die Wellen

Als über 2000 Frauen unterschiedlicher sozialer Organisationen im Zentrum Oaxacas am 1. August 2006 zur Fernsehstation des Canal 9 drängten und um eine Stunde Redezeit von den Machern des Senders CORTV baten, war dies kein Zufall. Genau jener staatliche Sendekanal hatte eine mit üblem Vokabular geführte Berichterstattung über die Proteste der sozialen Bewegungen, die sich zur APPO zusammengeschlossen hatten, vom Zaun gebrochen. Die Frauen besetzten schließlich den Sender.
APPO ist die Abkürzung für Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca, Volksversammlung der Völker Oaxacas. Seit Juli 2006 ist dieser Zusammenschluss, der aus mehr als 350 Gruppierungen besteht als APPO im Bundesstaat Oaxaca aktiv. Ausgangspunkt dieser basisdemokratischen Organisierung war der Aufstand der Lehrer*innen  bzw. der Lehrendengewerkschaft im Mai 2006 in der Stadt Oaxaca. Die APPO besteht u.a. aus Gewerkschaften, Bauern-, Studierenden- und Indígena-Organisationen.

Holzschnittplakat | „Gerechtigkeit oder gewaltsame Revolution“ | Die „43“ verweist auf die 43 verschwundenen Student*innen in Mexico, die vermutlich auf das Konto der Polizei/Paramilitärs gehen | Historisches Zentrum Oaxaca | 20.3.2018
Anlaß für die Proteste der Lehrendengewerkschaft SNTE (Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educación) war im Grunde die Wahl Ulises Ruiz Ortiz, der Partei PRI, der bereits 2004 zum Gouverneur des Bundesstaates Oaxaca gewählt worden war. Die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die Mexiko von 1929 bis 2000 regierte gilt als korrupt, machtbesessen und pflegt eine repressive Haltung gegenüber emanzipatorischen, sozialen Bewegungen. Ruiz Ortiz wurde zudem vorgeworfen, durch Wahlbetrug an die Macht gekommen zu sein. Tieferliegende Ursache ist jedoch eher die Tatsache, dass Oaxaca einer der ärmsten Bundesstaaten Mexikos ist, in dem besonders die indigene Bevölkerung – ähnlich wie im südlicheren Chiapas – größtenteils in deklassierter Armut lebt.
Der Aufstand von 2006 kam also nicht aus dem Nichts, zumal seit 2004 verschiedene Indigena-Organisationen zahlreiche Proteste gegen die Regentschaft Ruiz Ortiz initiiert hatten.
Als am 22. Mai 2006 die Lehrenden mit ihren Protesten höhere Löhne und eine bessere Ausstattung der Schulen forderten, ließ Ruiz Ortiz eine Lehrendenversammlung auf dem Hauptplatz von Oaxaca gewaltsam aufzulösen, nachdem er zuvor jegliche Verhandlungen abgelehnt hatte. Bei den anschließenden heftigen Auseinandersetzungen schlugen Protestierende und Einwohner*innen die Polizei zurück, die daraufhin mehrere Monate lang Oaxaca nicht mehr betreten konnte. Schon bei diesen Auseinandersetzungen kamen drei Lehrkräfte und ein Kind um.
Ruiz Ortiz wurde aus dem Regierungsgebäude vertrieben und versuchte daraufhin, sein Amt als Gouverneur zum Regieren vom Bundesstaat vom internationalen Flughafen von Oaxaca auszuüben.
All diese Ereignisse bildeten den Hintergrund für die Gründung der APPO. Denn Demonstrant*innen und Bevölkerung fürchteten gewaltsame Reaktionen von Policía Federal Preventiva (PFP), Paramilitärs und dem Militär. Deshalb bildeten soziale Bewegungen, Gewerkschaften, Bauern- und Indigena-Organisationen die APPO.

Holzschnittplakat | Machete als Symbol ländlichen Widerstands gegen Vertreibung und Verarmung | Historisches Zentrum Oaxaca | 20.3.2018

Anhaltende Widerständigkeit

Zentraler Ort des Widerstands wird bis zum November 2006 der Zocálo Oaxacas sein. Das Rückgrat des Widerstands bilden die zahlreichen Kommissionen der organisationsstarken APPO. Trotz massiver Übergriffe der Polizei, brutaler Angriffe von Paramilitärs in Kooperation mit dem Bundesheer bleibt der Zocálo als Zeltstadt der Kernort des Widerstands. Die Eskalationsstrategie seitens des Staates umfasst das ganze Arsenal an Niedertracht von gezielten Tötungen bekannter Aktivist*innen, Infiltration, (illegalen) Hausdurchsuchungen, Verwüstungen von Wohnungen und sozialen Treffpunkten. Doch die Aktionen auf Seiten der Proteste sind vielfältig und hartnäckig. Neben besetzten Teilen der Universität, permanentem Ausstand der Lehrenden, der oben beschriebenen Aneignung eines staatlichen Fernsehkanals, organisieren die widerständigen Protstler*innen Anfang Oktober einen Marsch Richtung Mexico Stadt, um mit der Regierung in Verhandlung zu treten. Hier sind ideell-strategische Einflüsse der zapatistischen Bewegung unübersehbar.

Niederringen von Widerstand

Es kommt in Mexico-Stadt tatsächlich zu Verhandlungen und letztlich zu Teileinigungen, was auch bedeutete, dass die Lehrenden in Oaxaca den Unterricht wieder aufnahmen. Aus der heutigen Perspektive ist jedoch ersichtlich, dass diese so genannten Verhandlungen ein weiteres Feigenblatt etablierter Machtpolitik war, um Widerstand einzudämmen, zu zermürben und mittels Hoffnung auf ernsthaften Dialog die Protestierenden einzulullen.
Am 27. Oktober 2006 werden während Auseinandersetzungen zwischen APPO-Mitgliedern und Paramilitärs der US-amerikanische Polit-Aktivist und Indymedia-Reporter Bradley Roland Will aus New York sowie der Lehrer Emilio Alonso Fabián und Esteban López Zurita erschossen.
Der damalige mexikanische Präsident Vicente Fox nimmt den Mord an Brad Will zum Anlass, um die Bundespolizei PFP in Oaxaca einmaschieren zu lassen.
Nur zwei Tage später rückt erneut eine Streitmacht von ungefähr 3.500 Bundespolizisten, 3.000 Militärpolizisten sowie 3.000 Soldaten in Oaxaca ein. Trotz dieser erdrückenden Übermacht wehren die Besetzer*innen in harten Auseinandersetzungen die angestrebte Räumung des Zocálo ab. Das Konfrontationsniveau wird seitens des Staates hochgeschraubt; bei den Kämpfen werden mindestens zwei Menschen getötet, Polizeiüberfälle auf Häuser von Aktivisten bilden neben Hubschraubereinsätzen zum Abwerfen von Tränengasgranaten, die perverse Begleitmusik.

Grafittiplakat | „Es reicht!“ Schluss mit Staatsterrorismus – Gesetz zur Inneren Sicherheit“ | Historisches Zentrum Oaxaca | 20.3.2018

Vorläufiges Ende

Trotz hohem repressiven militärischen Drucks, gelingt es der APPO Mitte November 2006 einen mehrtägigen Kongress zur Entwicklung von Gegenkonzepten zu neoliberaler Privatisierungs- und Extraktionspolitik durchführen. Ziel ist schlussendlich, Oaxaca eine neue Verfassung zu geben. Es gründet sich ein Rat von 260 Vertretern verschiedener Regionen des Landes, dem auch 40 Vertreter der Lehrendengewerkschaft angehören. Aufgabe dieses Rates soll es sein, alternative politische Vorschläge zu entwickeln.
Zum Abschluss am 17. November 2006 kommt es abermals zu schweren Auseinandersetzungen mit Militär und Polizei,  deren Folge 17 getötete Aktivist*innen, zahlreiche Verletzte und über 40 Verhaftete sind.
Die in der darauffolgenden Woche am 25. November 2006 durchgeführte Großdemonstration fordert erneut drei Tote Demonstrant*innen, beim Versuch den Zocálo wieder zu besetzen, auch 160 Verhaftete sind zu beklagen.
Im Laufe des Novembers werden die letzten besetzten Orte (in der Universität) aufgegeben.
Ab Dezember folgen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen gegen bekannte Aktivist*innen, einige verschwinden aus der Stadt und tauchen unter, um der Rache von Paramilitärs, Polizei und Staatsanwalt zu entkommen.

Holzschnittplakat | „Prinzessinnen gibt es nicht“ | Historisches Zentrum Oaxaca | 20.3.2018

Wahrheitskommission

Der Aufstand der APPO ist nach 6 Monaten faktisch Ende November/Anfang Dezember 2006 beendet. Die Folgen sind noch jahrelang spürbar, auch heute sind die Lehrer*innen eine der stärksten sozialen Organisierungen, auch wenn die APPO als Zusammenschluss in den folgenden Jahren nach 2006 politisch nicht mehr an die Dynamik des Aufstandes anknüpfen konnte. Die Repression ist hierfür sicherlich einer der ausschlaggebenden Faktoren.
2009 erklärte der oberste mexicanische Gerichtshof, dass sich Ruiz Ortiz 2006/07 schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht habe. Als 2010 im Bundesstaat Oaxaca eine Vielparteienkoalition aus PAN, PRD, Convergencia und PT unter Führung Gabino Cué Monteagudo an die Regierungsmacht kommt, wird die Schuld der Vorgängerregierung eingestanden, gar Entschädigungszahlungen vereinbart und nach Druck von Basisinitiativen und einigem Zögern der Bildung einer unabhängigen Wahrheitskommission (Comisión de la Verdad) zugestimmt. Diese nimmt im November 2014 ihre Arbeit auf. 2016 sollte ein vorläufiges Untersuchungsergebnis vorgelegt werden, das jedoch bis heute nicht zum Abschluss gekommen ist…

Zeitungsartikel zur Besetzung des Fernsehkanals durch die Frauen von Oaxaca
| La Jornada
Konflikt in Oaxaca | Wikipedia