Enorme Politisierung


Quito | 15. Oktober 2010 | Avenida 10 de Agosto | Um die 100.000 Menschen kamen aus allen Landesteilen und diversen gesellschaftlichen Bereichen, um für die Demokratisierung, für die neue Verfassung, für die Regierung Correa und gegen rechte Kreise in Politik, Militär und Polizei ein Zeichen zu setzen.

Quito | 16.10.2010.
Die Ereignisse, die als Putschversuch gegen die Regierung Correa in die Geschichte eingehen werden, sind nun zwei Wochen her. Während in den hiesigen Medien heftig darum gestritten wird, ob es nun ein Putschversuch im klassischen Sinn war, durch die rechte Opposition um Lucio Gutiérrez geplante Destabilisierungpolitik oder auch brechtigtes Anliegen, in schlechten Arbeitsbedingungen Dienst tuender Polizisten, hatte die Regierung Correa für den gestrigen Freitag zu einer zentralen Demonstration aufgerufen.
Von Freund_innen, die in staatlichen Institutionen arbeiten, erfuhr ich, dass sie nicht nur frei bekamen, sondern sogar unter Androhung einer »multa« [Geldstrafe] zur Teilnahme verpflichtet wurden. Einige behaupteten sogar, man würde in den staatlichen Institutionen den Job verlieren, wenn man nicht teilnehmen würde.
Entsprechend voreingenommen war ich. Eine Aktionsform wie eine Demonstration – Handwerkszeug von Bewegungspolitik – zu einer Pflichtveranstaltung mit bezahlten Bussen, freiem Arbeitstag und einem Sandwichpäckchen zu machen, ist mir zutiefst zu wider. Muss dabei an Jubelparaden staatlich inszenierter Events denken oder an den DGB, der zum 1. Mai oder anderen Großdemonstrationen Fresspäckchen an seine Mitglieder verteilt und sie von A nach B transportiert, um dann eine zahnlose Demonstration durchzuführen, um Büttenreden zu halten. Abends setzen sich dann wieder alls brav [!] in den Bus. War schön gewesen….
In den öffentlichen Medien wurden 40.000 Teilnehmende erwartet. Ich hatte keine Erwartungen, lediglich Vorurteile gegen Sandwich-Latsch-Demos.
Nichtsdestotrotz wollte ich mir die »Show« nicht engehen lassen, um mir ein authentisches Bild zu machen. Als wir morgens aus Tumbaco nach Quito kamen, war bereits die ganze Innenstadt voller Busse aus allen Teilen des Landes. Angenehmerweise war nicht ein Bulle zu sehen. Lediglich die »Policia Metropolitana« regelte dezent den nicht zu reglelnden Verkehr. Von offizieller Seite wollte man darauf verzichten die »Policia Nacional« in Erscheinung treten zu lassen. Immerhin waren es ihre Einheiten, die noch vor zwei Wochen auf die Leute geschossen hatten, was 10 Tote und 274 Verletzte zur Folge hatte. Zahlreiche mit Schusswunden. Entsprechend hatte die Regierung angekündigt, keine Bullen die Demo begleiten zu lassen, da sie »Probleme« mit den Teilnehmer_innen befürchtete. Nur zu verständlich.
Um 14 Uhr sollte die Demo im »Arbolito«, einem kleinen Park neben der »Casa de la Cultura« starten und um 17 Uhr sollte die Abschlusskundgebung auf der »Plaza de San Francisco« in der historischen Innenstadt sein.
Als ich dann gegen 15 Uhr auf der »Avenida 10 de Agosto« Richtung »Arbolito« lief, kam mir schon die Demonstration entgegen. Ein nicht enden wollender Zug von Menschen aus allen Provinzen des Landes, aus allen gesellschaftlichen Bereichen und von allerlei Projekten. Hier in Ecuador ist es üblich auf den mitgeführten Schildern, Plakaten, Fahnen und Transparenten nicht nur die politische Message abzubilden, sondern auch die Provinzherkunft und die Organisation, zu der die Leute sich zugehörig fühlen, zu vermerken. Man bekommt also einen recht guten Überblick, wenn ich auch viele Farbkombinationen und Symbole nicht interpretieren konnte. Dafür kann das glücklicherweise mein Bekannter J., mit dem ich hier unterwegs war. Alle da, aus Esemeraldas, Manabi, Guayas, Pichincha; von der Küstem aus den Anden- und Amazoonasgebieten. Alle Alterstufen und verschiedenste Ethnien.
1,5 Stunden dauerte der nicht enden wollende Zug. Als die ersten schon auf der »Plaza de San Francisco« angekommen waren, hatten andere den »Arbolito« noch nicht mal verlassen. Nicht nur die anzahl war beeindruckend, sondern auch das Auftreten der Menschen.
Nach spätestens einer halben Stunde war mir klar, dass dies – trotz der angeblichen Pflichtveranstaltung – dies eben keine Pflichtveranstaltung war. Im Gegenteil, die Leute wussetn genau, warum und wofür sie da auf der Straße waren.
Die politischen Aussagen reichten von Dank an die Regierung, dass sie diese oder jene Region mit Mitteln ausgestattet hatten oder Land an an die Leute verteilt hatten bis hin zu Forderung zum bewussetn Umgang mit Naturressourcen oder der Einrichtung eines eigenen Fischministeriums für die verarmten Fischer_innen.
Was für mich etwas nervig ist das permanente Bemühen des »Patria«, des Vaterlandes. Trotz einer anderen sozial-politisch-kulturellen Betonung, oftmals verknüpft mit Ideen der Befreiungsbewegungen [gegen Kolonialisierung], bleibt es eine mögliche Brücke zur Rechten. Nationalismus ist stets auch verbunden mit ausgrenzenden Ideologien wie Rassismus. So etwas ist mir suspekt.
Die historische Innenstadt war übervoll. Nicht nur die »Plaza de San Francisco« war dicht gedrängt, sondern auch die »Plaza Grande« war zu und bis hinunter zur »Plaza de Teatro« waren die Straßen gefüllt. Heute sind sich vor allem die konservativen Medien nicht zu blöd, etwas von »einigen Tausend«, »5.000 Anwesenden« zu schreiben. Eine Scheiß-Presse, verlogen und so offensichtlich peinlich. Aber selbst die der Regierung wohl gesonnenden Medien gebene sich eher bescheiden. Hier wird von 40-50.000 gesprochen. Das kommt alles nicht hin…
Mich faszinierte die nicht nur die Anzhal, sondern vor allem die Diversität der ecuadoriansichen Gesellschaft, der enorme Grad der Politisierung und die damit sichtbare Teilhabe an wesentlichen gesellschaftlichen Fragen und Ereignissen. Sicherlich auch auf die spezielle politische Situation des Landes in der letzten Dekade zurückzuführen. Viele [neoliberale] Präsidenten und Regierung sind gestürzt worden. Es ist deutlich, dass die neoliberale, kapitalistische Politik in diesem Teil Südamerikas keine Lebensgrundlage für die Mehrheit der Menschen darstellt, sie produziert nur Armut, Hunger und Ausbeutung.
Das ist immer mehr Menschen klargeworden. Und dafür steht auch die Unterstützung der Regierung Correa, für den Willen eines [basis]demokratischen, grundsätzlichen Wandels.
Schade nur, dass die Regierung Correa ihrer eigenen überwältigenden Zustimmung durch die Bevölkerung wenig vertraut, oft den Dialog mit den Basisintiativen verweigert oder eben eine beindruckende Manifestation wie die gestrige zu einer Pflichtveranstaltung machen wollte. Völlig unnötig. Die Menschen sind nicht auf den Kopf gefallen, den haben sie auf den Schultern zum denken und wären mit Sicherheit auch ohne Sandwich und Androhung einer »multa« auf der Straße gewesen… ¡El pueblo ecuadoriano presente!
P.S.: Wie schön ist da Leben ohne Bullen!
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