Ecuador: Ungereimtheiten, Widersprüche und offene Fragen rund um den 30. September 2010


Quito | 30. September 2010 | Avenida Mariana de Jesus | Widerspruch der Bevölkerung Foto: Luis Herrera

Quito | 13. Oktober 2010. Nach den Ereignissen vom 30. September 2010 in Ecuador, die als Putschversuch gegen die Regierung Correa in die Geschichte eingehen werden, besteht ein abgeschwächter Ausnahmezustand lediglich für die Hauptstadt Quito. Die Ermittlungen der Distriktanwaltschaft unter Marco Freire führten heute dazu, dass weitere acht Militärs vor den Disziplinarausschuss vorgeladen wurden. Hier soll geklärt werden, wie weitgehend sie in die Aktionen gegen die Regierung Correa involviert gewesen sind. 145 weitere Flughafenmitarbeiter_innen des Militärs unterzogen sich ebenfalls einer Anhörung, um die Besetzung des Flughafens Quito aufzuklären. Sowohl in Quito als auch in Guayaquil, im Süden des Landes, musste am 30. September 2010 der Flugverkehr eingestellt werden.

Putschversuch oder spontane Eskalation?
In den ecuadorianischen Medien, von regierungstreu bis oppositionell, finden sich zahlreiche Artikel, Interviews und Erklärungen aus der politischen Landschaft, die versuchen, sich ein Bild von den Ereignissen um den 30. September 2010 zu machen. Eine gewichtige Rolle spielt dabei die Frage, inwiefern die destabilisierenden Aktionen ein [geplanter] Putsch gewesen seien, oder eine Aneinanderreihung von Ereignissen, die auf die Unzufriedenheit der unteren Polizeieinheiten zurückzuführen gewesen sei.
Während Rafael Correa weiterhin an seiner Version festhält, es habe sich um einen geplanten Putschversuch gehandelt, für den die rechten Kreise der Partei »Sociedad Patriótica« um den Ex-Präsidenten [2003 – 2005] Lucio Gutiérrez verantwortlich zu machen sind, fallen die Antworten des Innenministers Gustavo Jalkh, anders aus. Jalkh war am 30. September 2010 ebenfalls im Polizeikrankenhaus und in unmittelbarer Nähe des Präsidenten, der dort festgesetzt war.
In einem halbseitigen Interview der Sonntagsausgabe des »El Comercio« vom 10. Oktober 2010 äussert sich Jalkh gegenüber dem Journalisten Arturo Torres R. zurückhaltender. Torres: »Aber das Geschehene ist – nach verschiedenen Lesarten – keineswegs ein Putsch. Sondern eher ein sich entwickelndes Ereignis, dass sich in eine komplizierte Situation verwandelte, unsicher für den Präsidenten, der zu viel Risiko eingegangen ist.«
Jalkh: »So war es, es hatte sich entwickelt, aber man versuchte in Straflosigkeit zu handeln und es gab politische Destabilisierungsinteressen. Das Seltsame ist, dass so etwas geschieht unter einer jener Regierungen, die viel in die Polizei gesteckt haben, die Polizei ist eine der bestbezahlten der Region.«
Das gesamte Interview handelt von den Widersprüchen der »Fußtruppen« der Polizei, der Offiziere und der Generalität innerhalb der Polizei. Widersprüche, die nach Aussage des »El Comercio« vorwiegend auf dem Rücken des gemeinen Polizisten ausgetragen würden, während Offiziere und höhere Ränge zahlreiche Privilegien besäßen. Jalkh verneint dies nicht, weist aber darauf hin, dass eine grundsätzliche Umstrukturierung hin zu Transparenz, Gleichstellung und gegen die Korruption fördernde Hierarchien und Sonderzuschläge, im Gange sei.
Im weiteren Verlauf des Interviews spricht Torres die Problematik der Verknüpfung der Polizei und dem organisierten Verbrechen an. Torres: »Folglich hat das Geschehene Aktionen gegen dutzende Polizisten ausgelöst. Besteht nicht das Risiko, dass viele von ihnen – vor allem jene, die die Polizei hinter sich lassen – sich dem organisierten Verbrechen zuwenden, wie jüngst geschehen in Mexiko und Kolumbien. Sehen sie diese Situation auf sich zukommen?«
Jalkh: »Es muss Gerechtigkeit und Feststellung von Verantwortlichkeiten geben. Es wird kleinere interne Sanktionen geben, und die davon Betroffenen werden in der Polizei verbleiben. Einige werden durch das Disziplinargericht verurteilt werden, was eine Einkommensverschlechterung bedeuten kann. Andere, die Straftaten begangen haben, müssen sich vor Gericht verantworten. Man wird auch ein verstärktes Untersuchtungs- und Kontrollsystem für interne Angelegenheiten einführen müssen, um die Eingliederung von Polizisten in die organisierte Kriminalität zu vermeiden.«
Auch wenn die Zeitung »El Comercio« eher in Opposition zur Regierung Correa steht, so sind die Anworten Gustavo Jalkhs dennoch aufschlussreich. Es wird deutlich, dass es massive Probleme im Umgang mit den Sicherheitskräften im Land gibt. Auch das Zugeständnis, dass die Ereignisse im Polizeikrankenhaus am 30. September 2010 und deren eskalative Entwicklung, im Zusammenhang mit dem arroganten Auftreten Correas steht, ist bemerkenswert.

Offene Fragen und Widersprüche
Es existieren derzeit verschiedene Thesen über die Ereignissse am 30. September 2010. Das reicht von berechtigten Protesten der unteren Chargen der Polizei, die dann spontan eskaliert seien bis hin zur Annahme, rechte Kreise im Militär und der Polizei hätten einen Putsch geplant. Politisch verantwortlich sei Lucio Gutiérrez und seine Partei »Sociedad Patriótica«. Auch wenn Correa in seiner noch am Abend des 30. September 2010 gehaltenden Fernsehansprache von »dunklen ausländischen Kräften« sprach, so sind Aussagen, dass die USA und/oder die CIA direkt hinter dem Putsch stehe nicht Teil der Spekulationen im Land, noch sind sie haltbar. Dass die USA politisch kein Interesse an der Entwicklung eines eigenständigen, möglicherweise neu-sozialistisch geprägten Südmerikas hat und permanent diesen Versuchen entgegenarbeitet, davon ist sicher auszugehen.
Es gibt aber auch ohne den [oftmals berechtigten] Beissreflex, die CIA würde hinter dem Putschversuch stehen, ausreichend Widersprüche, die darauf hinweisen, dass es zumindest kein Putsch im Sinne eines Staatsstreiches war, wo ein Präsident und sein Kabinett durch einen Militär, eine andere politische Figur ersetzt werden sollte. Es gab keine Erklärung einer politischen oder militärischen Machtclique, die den Präsidenten für abgesetzt erkärt hatten. Lediglich Parolen wie »Nieder mit Correa« der aufgebrachten Polizei und die Forderung nach Rücknahme des betreffenden Gesetzes zur Neuregelung des öffentlichen Dienstes bestimmten das Geschehen.
Auch bleibt die Frage ungeklärt – trotz erregter und sprachlich unterirdischer aufgezeichneter Funksprüche von Polizeieinheiten – warum Correa überlebte. Wenn es ein [geplanter] Putsch war, wäre es ein leichtes gewesen, Rafael Correa im Regimiento de Quito oder im Polizeikrankenhaus zu töten.
Ein tatsächlich im Rahmen eines Putsches entführter Präsident hätte während seiner Festsetzung vermutlich nicht mit seinen Ministern oder Hugo Chavez telefonieren können oder gar noch zu einer Fensterrede ansetzen können.
Die von Regierungsseite bereits gegen 10 Uhr morgens aufgeworfene These eines Putschversuches sowie die anschließende unmittelbare Gleichschaltung der Medien – noch vor Ausrufung des Ausnahmezustandes gegen 12.30 Uhr – wirft zumindest Fragen auf.
Glaubt man der Regierung, dass diese bereits sehr früh von einem Putschversuch ausging, stellt sich die Frage, warum die Spezialeinheiten der Polizei [GOE/GIR] sowie das Militär erst mit Einbruch der Dunkelheit zur Befreiung des Präsidenten ansetzten?
War das Militär unentschieden, wie es sich entscheiden sollte? Gegen 10.30 Uhr verkündete der General der Streitkräfte, sie würden sich »al margen de los hechos«, am Rande der Ereignisse, verordnen. Wenig später schob er nach, sie stünden auf Seiten der Verfassung.
Auf Seiten der Verfassung ist eine Aussage, die putschende Militärs oftmals bemüht hatten als Argument für die gewaltsame Absetzung eines Präsidenten oder Kabinetts. Also doch ein Putschversuch? Oder einfach ein Austesten der Kräfteverhältnisse im Lande?
Unbestritten ist, dass die Ereignisse des 30. September 2010 das Land und die die eingeschlagene Politik Correas destabilisieren sollten.
Unbestritten ist aber auch, dass Correa innenpolitisch einen rechtssozialdemokratischen autoritären Führungsstil vorlegt, der von Basisinitiativen, Gewerkschaften, indigenen Gemeinden und Organisitionen und linken Gruppen stark kritisiert wird.

Politische Zukunft
Politisch ist Rafael Correa und seine Partei »Alianza País« gestärkt aus dem 30. September 2010 hervorgegangen. Vor dem Hintergrund der Rückendeckung von UNASUR [Union südamerikanischer Nationen] und OAS [Organisation Amerikanischer Staaten] ist das vor dem internationalen Setting des Versuches in Südamerika eigene sozialpolitische Modelle zu verwirklichen, einen anderen Umgang mit Bodenschätzen und Natur anzugehen, sich unabhängiger von den USA und Europa auf internationalem Parkett zu bewegen, sicherlich begrüßenswert.
Innenpolitisch deutet sich bereits jetzt an, dass es nicht nur um die Entledigung der rechten Opposition um Lucio Gutiérrez geht, sondern auch linke Kräfte – wie beispielsweise die MPD (Movimiento Popular Democrático), Studenten- und Gewerkschaftsorganisationen und indigene Gemeinden und Organisationen mit zunehmender Repression zu rechnen haben.
Zu einer Kritik am Auftreten und Vorgehen sei auf das AFP-Interview des ehemaligen Weggefährten Correas Alberto Acosta vom 2. Oktober 2010 hingewiesen. Auch die erste und zweite Erklärung der stärksten indigenen Organisation CONAIE zeugen deutlich von der Verbitterung der innenpolitischen Lage auch vor den Ereignissen des 30. September 2010.