Kreuzberg 36. Lernen endet glücklicherweise nicht mit dem Zustand des Erwachsenendaseins, was gemeinhin mit dem Eintritt in die Volljährigkeit angenommen wird. Die Art des Lernens, des Verstehens und des Begreifens ist nicht lediglich eine Frage von Zugang zu Informationen; die Gewichtung derselben, die An- und Einordnung sowie die erlernte Fähigkeit der Bewertung spielt eine wesentliche Rolle. Sowohl der Zugang zu Informationen als auch die Interpretation und Wiedergabefähigkeit speist sich aus den bestehenden herrschenden [Lern]Verhältissen, die durch verschiedene Institutionen wie Kindergärten, Schule, Universität und anderer Lehranstalten beschrieben und in uns eingeschrieben werden.
Den Hintergrund herrschender Lehre bildet die Herrschaft selbst…
[Oder: Auch eine Antwort auf die Verachtung so genannter Unterprivilegierter und ihren »Unwillen« zur Lernfähigkeit]
»Untrennbar von der ökonomischen Begünstigung war die Überlegenheit des Wissens. Zum Besitz gehörte der Geiz, und die Bevorteilten versuchten, den Unbemittelten den Weg zur Bildung so lange wie möglich zu verwehren. Ehe wir uns Einblick in die Verhältnisse verschafft und grundlegende Kenntnisse gewonnen hatten, konnten die Privilegien der Herrschenden nicht aufgehoben werden. Immer wieder wurden wir zurückgeworfen, weil unser Vermögen des Denkens, des Kombinierens und Folgerns noch nicht genügend entwickelt war. Der Beginn einer Veränderung dieses Zustandes lag in der Einsicht, daß sich die Hauptkraft der oberen Klassen gegen unseren Wissensdrang richtete. Seitdem war es das Wichtigste, uns eine Schulung zu erobern, eine Fertigkeit auf jedem Gebiet des Forschens, unter der Verwendung aller Mittel, der Verschlagenheit und der Selbstüberwindung. Unser Studieren war von Anfang an Auflehnung. Wir sammelten Material zu unsrer Verteidigung und zur Vorbereitung einer Eroberung. Selten zufällig, meist weil wir das Begriffene weiterführten, gelangten wir von einem Objekt zum nächsten, kämpften sowohl gegen die Mattigkeit an und die vertrauten Perspektiven, als auch gegen das ständig geführte Argument, daß wir nach dem Arbeitstag zur Anstrengung des Selbstunterrichts nicht fähig sein könnten. Mußten sich die betäubten Gedanken auch oft erst aus einer Leere hinausdrängen und nach der Monotonie Beweglichkeit aufs neue erlernen, so ging es uns doch darum, daß die Lohntätigkeit weder abgewertet noch verachtet wurde. Mit unsrer Ablehnung der Ansicht, daß es für unsereinen eine besondre Leistung sei, sich mit künstlerischer, wissenschaftlicher Problematik auseinanderzusetzen, war der Wille verbunden, sich ein einer Arbeit, die uns nicht gehörte, selbst zu erhalten.«
[…]
»Dabei konnte es sich jedoch nie um eine bloße Übernahme von Kulturwelten handeln, aus den Händen derer, die bisher mit ihren Privilegien im Dienst der Herrschenden standen, es wäre damit auch die Entpolitisierung der Kultur, die Absage an den Klassenkampf übernommen worden. Vielmehr hatte jetzt die Wechselwirkung einzusetzen zwischen dem fertig Gestalteten und dem Suchen nach eigenem Ausdruck. Während wir uns Kultur aneigneten, mußte jener Gesamtmechanismus vernichtet werden, dessen Bestandteil die Kultur gewesen war. Was uns weiterbilden konnte, mußte erst noch geschaffen werden.«
Peter Weiss | Die Ästethik des Widerstandes | edition suhkamp | Erster Band I