Leistung und Leidenschaft

Berlin/Tegel. 27.9.2010. 16 Uhr. Der Weg zum Flughafen ist beschwerlich, zumindest, wenn ich den Gesichtern der Menschen in der Linie 128, dem Bus zum Flughafen, glauben schenken darf. Der Himmel ist grau, es regnet und übergewichtige Menschen mit ebensolch fettigen Haaren sehen nicht so aus, als ob ihnen das Leben in Berlin in diesem Stadtteil leicht von der Hand gehen würde. Im Gegenteil, niemand spricht. Bilde mir ein, in der U8 sind nicht nur erkennbarere Individuen mit einem interessanteren Selbstentwurf [rein äußerlich] unterwegs, sondern auch mehr Gesprächsstoff vorhanden. Wie auch immer. Der graue Himmel ist nicht zu sehen, dank des Daches, dass vor Nässe schützt. Muss wohl der unverschämte Fahrpreis sein oder die Anhebung des Almosens der Hartz-IV-Sätze, die den Menschen wenig gute Laune in die Gesichter schreiben.
In der Auffahrt zum Flughafen Tegel werden wir noch mal daran erinnert, was dieses Land im Kern beflügelt. Es sind nicht die abhebenden Flugzeuge und auch nicht Red Bull, sondern die Deutsche Bank, die mit ihrem dezent überproportionalen Logo in Blau/Weiß den in Kreisform aufgebauten Flughafen markiert. Als Unterzeile knallt es uns über die Augen ins Hirn: »Leistung aus Leidenschaft«. Meine Augen können sich vor Begeisterung gar nicht lösen, auch als der Bus fröhlich vorbei schaukelt, die rückseitige Subline ist in weltmarktkonformen Englisch formuliert: »Perform with Passion«. Hatte bisher Performance nie mit »Leistung« in meinem mittelmäßig mit Englisch gebildeten Gehirn übersetzt. Wäre sonst vermutlich bei der einen oder anderen Straßenperformance schreiend davongelaufen.
Das liebste Kind deutscher Kultur ist die Jagd nach Leistung, koste es auch das Leben. Das eint alle Sektoren der Gesellschaft, auch große Teile der Linken, ja sogar diejenigen, die sich sinnvollerweise in Bewegungspolitik bewegen, geht mir durch den Kopf. Verdammter protestantischer Leistungsethos….
Da ich schon beim Fahren und Reisen und bei Schildern und bei sinnfreien Sprüchen bin, taucht unausweichlich das »Willkommen im Land er Frühaufsteher« vor meinem geistigen Auge auf. Oft genug auf dem Weg ins vertraute Niedersachsen von Berlin dran vorbeifahren müssen, also am Schild, aber durch Sachsen-Anhalt. Offensichtlich dem Bundesland derjenigen, die den frühesten Vogel auf den Wurm losjagen. Warum eigentlich? Damit alle als erste bei den Schlangen der Agentur für Arbeit auch als erste entweder 1 Euro-Jobs reingedrückt bekommen, oder aber ohnehin kein würdig bezahlter Job mit gesellschaftlich sinnvoller Tätigkeit abfällt. Entweder ist die Tätigkeit sinnlos und gut bezahlt [Werbung] oder die Tätigkeit sinnvoll und unterirdisch bezahlt [Physiotherapie]. Immer dreht sich alles um [Lohn]Arbeit, auch meine Assoziationsketten….
Eine Stunde später sitze ich im »Niemandsland«, so habe ich dass bei meinem ersten Flug im Jahre 1999 naiverweise mal getauft. Gemeint ist die Wartezone im Flughafen, nachdem die Menschen unter Generalverdacht sicherheitsvercheckt wurden. Das ist das Land der Sicherheitsfantiker_innen. Hier gibt es kein Wasser unter 3 Euro, keinen Kaffee unter 5 Euro, keine Ecke ohne Kameras und zuvor wurde durch die Art der Untersuchung zweifelsfrei festgestellt, wer wenn kontrolliert und den Machtanspruch auch druchsetzt; Staat und Konzern.
Um mich herum 60-70% Anzugträger. Idiotischerweise geht von diesem Gate auch ein Flieger von Berlin nach Mannheim. Da haben sich die Anzugträger wohl die Rechte zur Luftverschmutzung über ihr Dasein als businessorientierte Kaste im Vorhinein erworben. Weiße Hemden, dunkle Anzugjacken, üppige Bäuche von zahlreichen Geschäftsessen. Mindestens zehn Laptop-Irre um mich herum. Excel-Tabellen, Access-Karteikarten, unlesbare Word-Dorkumente, Power-Point-Folien. Das Leistungspaket von Herrn Gates bespielt die Rechner, beherrscht die Hirne, schüttet seinen hässlichen Inhalt über die Laptops in die Welt aus. Alles wird quantifiziert, in der marktförmigen Hoffnung, es erhebe sich daraus eines Tages eine wundersame Qualität. Alles unendlich detailliert beschrieben, ohne Zusammenhänge begreifbar machen zu wollen, Kuchen- und Balkengrafiken in unzumutbaren Farben erstellen. Über den Köpfen auf Plasmabildschirmen wütet N24 mit Börsenzahlen und ästhetisch vorteilhaften Kriegsberichten aus irgendeinem Teil dieser Welt. Was für ein [Des]Informations-Irrsinn.
Die Herren und Frauen der Business-Kaste lesen »Berliner Morgenpost«, »Der Spiegel«, »Financial Times« und die zu erwartende »FAZ«. Auch das beschreibt »Leistung durch Leidenschaft«, noch mehr Input, noch mehr Informationen, alles simultan. Zeitung überfliegen, Rechnerdokumente von A nach B schicken, Handys und Palms beglücken. Wieso regt sich die Öffentlichkeit über Kinder mit angeblichen ADS auf. Ist doch die perfekte Störung für die Welt der Ping-Pong-Konzentration…
Uhh, da vorne eine Person, die viel weniger hektisch wirkt, eine etwa 50-jährige Frau, kein Kostüm, keine hoch gesteckte Frisur, einfach nur einen Pullover und eine bequeme Hose charakterisieren diesen Mensch, der ein Buch liest.
Selbiges gedenke ich auch zu tun [erst mal genug gesehen]. »Der Fußballkrieg – Berichte aus der dritten Welt«, ein heute nicht besonders gefälliger Titel, zumal das Buch des politischen, polnischen Reisejournalisten Ryczard Kapuscinski zu drei Vierteln von seinen wahnwitzigen Erlebnissen in verschiedenen Ländern Afrikas der 1960er handelt. Der so genannte »Fußballkrieg« von 1969 zwischen Honduras und El Salvador nimmt nur wenige Buchseiten in Anspruch. Auch hier wieder Etikettenschwindel, geht es mir ärgerlich durch den Kopf.
An lesen ist nicht zu denken, denn neben den Laptop-Irren sind mindestes 20 Handy-Abhängige um mich herum, die alle noch unbedingt Business- oder Familiengespräche führen müssen. Dank der im konkurrenzhaften Ellenbogenkapitalismus antrainierten Profilneurosen wiederum mindestens der Häfte dieser 20 Handy-Junkies, ist die Dauer und Lautstärke der Telefonate Lounge beherrschend. Immer geht es um Beherrschung, sich Raum einfach zu nehmen. Das ist dann wohl die Wirklichkeit der »Leistung aus Leidenschaft«.
Endlich wird durch Cirrus-Airline die Mannheim-Dreckstour aufgerufen. Fast alle Anzugträger werden vom Zugang zum Flugzeug verschluckt. Der dicke weißbehemdete Bauch von vorhin auch…
Ich muss mich trotzdem umsetzen, meine Nebensitzerin will auch nicht aufhören über irgendwelche Artikel, die Doppelungen enthalten, zu konferieren.
Mir fällt ein toller Satz ein, den mir einst ein mittelmäßig programmierter 3D-Pinguin hingebungsvoll als Anhang einer Mail zuflüsterte: »Einfach mal die Schnautze halten, wenn man keine Ahnung hat…«
Ich freue mich auf Reisen zu sein.