Rebell: Mike Davis

»In den fiktiven Katastrophenbildern spiegeln sich die Ängste der besitzenden, aber mehr und mehr zur Minderheit werdenden weißen Oberschicht vor der realen Katastrophe aus Gewalt, Rassismus und Verelendung. In der Realität führen diese Ängste allerdings zu einer fortschreitenden Militarisierung des Stadtraums. Auf der Grundlage bereits ersichtlicher raumpolitischer Maßnahmen entwirft Davis eine Karte für die künftige Zitadellenarchitektur von Los Angeles: ein infernalischer Bebauungsplan mit elektronischen Zugbrücken, Ghettos und Übergangszonen, sortiert nach Hautfarben und Besitzständen.« [Deutschland Radio Kultur | Besprechung von »Ökologie der Angst« | Walter van Rossum | 18.07.2000]

Kreuzberg | 27.10.2022. Heute Morgen erhielt ich eine Mail des Verlags »Assoziation A« mit einem Nachruf auf Mike Davis. Sofort flitzen Gedankenfetzen abgefahrener Formulierungen und Bilder durch meinen Kopf. Die sprachliche Gewandtheit, rhetorische Gewaltigkeit und philosophische Spitzfindigkeit von Mike Davis’ Texten sind offensichtlich nachhaltig fesselnd.

Mike Davis verstarb am 25. Oktober 2022 im Alter von 76 Jahren an Speiseröhrenkrebs. In der linksliberalen us-amerikanischen Wochenzeitschrift »The Nation« wird Mike Davis’ Ansatz seines ersten bekannteren Werks »City of Quartz« von 1990 folgendermaßen beschrieben: Er kombiniere »den radikalen Bürger, der die Gesamtheit des Lebens seiner Stadt erfassen will, und die Stadtguerilla, die sich danach sehnt, das ganze verdammte Ding explodieren zu sehen.«.

Als ich Mitte der 1990er »City of Quartz« las, sprach mir der explosive Aspekt der Perspektive des Stadtguerilleros aus dem Herzen. Ich war geradezu euphorisiert – auch wenn die weitsichtige Dichte seiner Informationen und Argumentationsstränge mir erst viel später zu Erkenntnissen verhalfen…

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Rebellin: Esther Bejarano

»Ihr auf den Straßen und Plätzen, ich grüße euch!
Ihr, die ihr hier protestiert, weil ihr dem Unrecht und der Unvernunft des Kapitalismus nicht tatenlos zuschauen wollt. Weil ihr eine andere Welt wollt: eine Welt ohne Kriege, ohne Waffenhandel, ohne Hunger, ohne Ausbeutung, für verantwortlichen Umgang mit unserem Planeten Erde zum Wohle kommender Generationen.« [Rede | G-20-Gipfelproteste | 8.7.2017]

Kreuzberg | 10.8.2021. Vor ca. einem Monat, am 10. Juli 2021 vertarb die Sängerin und Antifaschistin Esther Bejarano im Alter von 96 Jahren in Hamburg. Hunderte von Menschen kamen zu ihrer Beerdigung.

Mit Esther Bajarano starb eine der letzten öffentlich breiter bekannten Überlebenden des Holocaust. Sie hatte Vertreibung, Zwangsarbeit, Deportation, die Konzentrationslager Ausschwitz und Ravensbrück überlebt. Beim so genannten Todesmarsch aus Ravensbrück gelang ihr die Flucht. Überlebt hatte sie auch deshalb, weil sie als Musikerin im Vernichtungslager Ausschwitz im Häftlingsorchester spielen konnte.

Seit den 1980er Jahren war sie als antifaschistische Aktivistin in der Öffentlichkeit bekannt. Sie äußerte sich nicht nur zum historischen Faschismus, sondern war bis zuletzt aktive Antifaschistin, die am aktuellen gesellschaftlichen Geschehen teilnahm und an etablierter Politik grundsätzliche (antikapitalistische) Kritik übte. Sie sprach vor Schulklassen, war Rednerin auf zahlreichen Veranstaltungen, Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen. Sie positionierte sich unzweifelhaft gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg. In Talkshows war sie erfrischend direkt und kritisch; sie unterlag nicht weichgespültem Geblubber, sie ließ sich ihre Worte nicht glattbügeln. Nicht zuletzt war sie Musikerin und sang mit der Kölner Hip-Hop Formation Microphone Mafia für eine bessere Welt.→ weiterlesen

Rebellin: Louise Michel

»Wissen wir denn, ob das, was uns heute utopisch erscheint, in der nächsten, übernächsten Epoche nicht schon Realität sein kann?«

Kreuzberg | 26.3.2021. »Louise Michel« ist der Name eines Seenotrettungsschiffs der Organistion Seewatch, welches vom Kulturschaffenden Banksy maßgeblich gespendet wurde. »Espace Louise Michel« ist auch der Name des Belleviller Stadtteilzentrums in Paris. Diesen Ort wiederum baute der Fälscher und Anarchist Lucio Urtubia.

Dieser Tage jährt sich der 150. Jahrestag der Pariser Kommune von 1871. 72 Tage regierte sich ein großer Teil der Pariser Bevölkerung selbst, kämpfte gegen die herrschende Klasse, widersetzte sich der preußischen Besatzung und leitete unmittelbar grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen ein; Trennung von Kirche und Staat; Enteignung bzw. Überführung von Fabriken in Kollektivbesitz; Erlass von Mietschulden; Rückgabe von gepfändeten lebensnotwendigen Gegenständen (Möbel, Kleidung, Bettzeug, Werkzeuge etc.); Schule für alle, kostenloses Essen für die Armen, Waisenpension für alle Kinder (auch sog. uneheliche) u.a.m.

Die Schrifttsellerin, Lehrerin und Anarchistin Louise Michel war eine Aktivistin jener Tage der Hoffnung.→ weiterlesen

Comic: Auf der Flucht erschossen

Im Prozessmanagement-Kurs ging mir dann erstmalig das Lied »Auf der Flucht erschossen« von Ape, Beck & Brinkmann im Kopf herum. Neben der Melodie surrten Sätze wie »die Armut machte ihn hart«, »leere Worte gegen ein Gewehr« durch meine Hirnwindungen.

Kreuzberg | 5.2.2021. Nun ist er gedruckt, mein internationalistischer Comic. Faktisch fertiggestellt 2012/13.

Bestellbar: www.turnleft-36.de

»Auf der Flucht erschossen« ist zuerst einmal ein Song von Ape, Beck und Brinkmann aus dem Jahr 1982. Er beschreibt in ein­fachen Sätzen aus der Sicht politischer Aktivist*innen eine Situation der Empathie, der Solidarität, der Hoffnung, tiefer Traurigkeit und Verbundenheit. Kurz vor dem Aufbruch…

Eine Gruppe Aktivist*innen in irgedneinem Land Lateinamerikas bereitet sich auf eine Aktion vor. Es ist kurz vor dem Aufbruch. Intensive Gedanken zu den Mitkämpfenden surren durch den Kopf und das Herz.

Der Comic teilt sich in zwei Teile. Der erste illustriert assoziativ den Text des Liedes.
Im zweiten Teil der Publikation wird nochmals Bezug genommen auf die Zeichnungen und historische Hintergründe erläutert. Ein Streifzug durch internationalistische links-aktivistische Geschichte unterschiedlicher Zeiten.

Die Zeichnungen entstanden 2012 während universitärer Vorlesungen geringen Inhalts und ein Teil später.

Verlinkungstips am Ende des Hefts erschaffen einen kleinen Soundtrack zur Geschichte…

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Staatsbürgerkunde

13.5.1989 Europawahlkampf in Göttingen. DVU/NPD-Kundgebung wird von der Polizei geschützt.
Antifaschist wird traktiert und festgenommen.

Kreuzberg | 3.2.2021. Im Frühjahr 1989 existierte die DDR noch. Im Januar 1989 waren die rechtsextreme Partei »Die Republikaner« in den Berliner Senat eingezogen. NPD und DVU traten gemeinsam als Liste D an und der DVU-Vorsitzende Gerhard Frey pulverte 18 Millionen DM in den Wahlkampf. Nicht nur die taktisch vollzogene Zusammenarbeit mit der NPD ließ Antifaschist*innen aufhorchen.

In Göttingen wollte die DVU – Liste D am 13. Mai 1989 eine Wahlkampfveranstaltung durchführen.

Es gab handfesten antifaschistischen Widerstand – letztlich kappte ein beherzter Aktivist das Kabel der NPD-Lautsprecheranlage, die durch zahlreiche Polizeiketten geschützt worden waren. Ca. 1500 Personen stellten sich den Faschisten an der Stadthallte direkt entgegen, während die offizielle Gewerkschaftskundgebung (ca. 300 Personen) ab vom Schuss in der Innenstadt weilte.

Eine politisch logische Konsequenz war das knüppelnde Einsatzkonzept der Polizei – unterstützt durch die Sondereinheit des EbLT (Berlin).

Mehr Hintergründe

Zeitungsartikel zum Prozeß gegen den Festgenommenen | Göttinger Woche | 28.9.1990 → weiterlesen

Rebell: Lucio Urtubia

Urtubia geht im Morgengrauen zur Arbeit als Maurer, danach verbringt er Stunden in den abgedunkelten Räumen, wo die Druckmaschinen rattern.*

Kreuzberg | 20.7.2020. Am 18. Juli 2020 starb Lucio Urtubia in Paris im Alter von 89 Jahren.

Der Verlag Assoziation A schreibt anläßlich des Todes: »Sozialrebell, Geldfälscher, Bandit, moderner Robin Hood – die Liste der Titel, mit denen Lucio beehrt wurde, ist lang. Sein Leben, das wie ein Abenteuerroman klingt, ist zugleich ein Spiegel der revolutionären Bewegungen Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. […]
Doch Lucio ist auch ein Meister der Konspiration, dem in seinem nicht gerade gesetzestreuen Leben das Kunststück gelingt, nur ein paar Monate im Gefängnis zu verbringen. Erst mit weit über 70 Jahren bricht er das Schweigen. Ein Buch über ihn erscheint
(in deutsch von Assoziation A verlegt), und ein Film wird gedreht, der mit deutschen Untertiteln in sieben Folgen auch bei YouTube zu sehen ist (https://www.youtube.com/watch?v=GG_HMCa2ud8). Schließlich veröffentlicht er seine Autobiografie, um selbst über sein Leben und die Motive seines Handelns Rechenschaft abzulegen. »Eine Bank zu berauben sei ihm eine Ehre« lautet dabei seine politische Grundüberzeugung. […] Nun ist der »Zorro vasco« mit 89 Jahren nach einem erfüllten Leben in Paris gestorben.
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Oranienplatz 2012-2014

Nach einer Auftaktdemonstration durch die Würzburger Innenstadt begannen am Samstag, dem 8. September 2012, ca. 50 Geflüchtete aus dem gesamten Bundesgebiet gemeinsam mit Unterstützer*innen einen Protestmarsch zu Fuß von Würzburg nach Berlin.

Nach 28 Tagen und fast 600 Kilometern Fußmarsch trafen am 6. Oktober 2012 ca. 70 Geflüchtete und 100 Unterstützer*innen am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg ein und machten dort ihren Protest sichtbar, indem sie unmittelbar begannen eine Zeltstadt zu errichten. Die Besetzung des Oranienplagtzes sollte solange aufrechterhalten werden, bis Lager- und Residenzpflicht abgeschafft und die bestehende Abschiebepraxis beendet würde.

Am Samstag, den 13. Oktober 2012, kam es in Berlin mit über 6000 Teilnehmenden zu einer der seinerzeit größten Demonstrationen für die Rechte von Geflüchteten und in der Bundesrepublik.

Am 8. April 2014 wurde der Oranienplatz geräumt. Auf die Forderungen der Geflüchteten wurde von offizieller Seite nicht eingegangen.

Mehr Hintergründe

Notizen zum Moment der Räumung → weiterlesen

Deutsche Täter sind keine Opfer

Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung für alle Opfer der menschenverachtenden Ideologie und Vernichtungspolitik der historischen Nazis. Bereits am 11. April 1945 gelang es Häftlingen im KZ Buchenwald sich selbst zu befreien als die us-amerikanische Armee im Anmarsch war. Dank der Selbstorganisierug des Internationalen Lagerkomitees waren zahlreiche Häftlinge vorbereitet und im Besitz von Waffen.

Nicht käuflich

Wird der Wolf uns an seinen Tisch einladen, um zu teilen seine üppigen Speisen?
Wer hat die Speisen angepflanzt, wer sie zubereitet?

Wird der Wolf seine Zähne herunterschleifen, sie uns anschließend als Schmuck vergangener Zeiten zärtlich um den Hals legen?
Wer sorgte dafür, dass seine Zähne als blitzblanke Drohung sein sauberes Anlitz schmücken?

Wird er Wolf uns freiwillig seinen Stuhl am Kopfende der Tafel aus Gold anbieten?
Wer drechselte ihm den reichlich verzierten Stuhl, wer holte das Gold unter Schweiß und Tränen aus dem Dreck?

Der Wolf amüsiert sich, lacht und nippt nochmals am Wein.
Wer sorgt für sein Amüsement und seine gute Laune?

Wir, wenn wir betteln nach Gerechtigkeit.
Wir, wenn wir die geschliffenen Worte des Wolfes anhimmeln.
Wir, wenn wir ihm abkaufen, was er uns anbietet.
Wir, wenn wir weiter daran arbeiten, seine Welt zu erhalten.

Dem Wolf gehört die Fresse poliert.